Text von Stefan Rasche

Setzungen, Entgrenzungen. Zu den Bildern Dorothea Posdienas

Auf den ersten, noch flüchtigen Blick scheint die künstlerische Position Dorothea Posdienas jener Tendenz innerhalb der zeitgenössischen, abstrakten Malerei verpflichtet zu sein, die unter wechselnden Etikettierungen etwa als „neokonstruktiv“, als „rationalistisch“ oder „objektivistisch“ beschrieben worden ist. Kennzeichnend dafür ist die Gliederung der Fläche in einfache, geometrische und deutlich differenzierbare Farbfelder von nicht oder zumindest kaum erkennbarer Struktur, wobei es den Vertretern dieser Richtung – unter teilweise dezidierter Berufung auf den historischen Konstruktivismus, die konkrete Abstraktion oder die amerikanische Hard-Edge-Malerei der 50er und 60er Jahre – um eine modellhafte Neubelebung überlieferter Fragestellungen geht, die auf die Demonstration einer visuellen Ordnung zielen.
In die mutmaßliche Nähe einer derartigen Bildauffassung mögen die Arbeiten Dorothea Posdienas zunächst durch ihre formale Organisation geraten, zumal auch sie auf einer Staffelung von farblich getrennten Teilflächen basieren, die sich – selbst angesichts des Einzelbildes zu erkennen – im Kontext einer vielschichtigen Kombinatorik zu einer Komposition, einer bildnerischen Ordnung zusammenfügen. Erste begründete Zweifel hinsichtlich einer solchen Zuweisung stellen sich dagegen durch eine genauere Betrachtung des Farbauftrages ein, der gerade für die neueren Bilder keinesfalls als „nach-malerisch“ oder homogen beschrieben werden kann. Stattdessen erzielt Dorothea Posdiena durch die Überlagerung zahlreicher, teilweise transparenter Farbschichten wie auch durch die sichtbare, persönliche Pinselführung eine sorgfältig differenzierte Strukturierung der benachbarten Bildfelder, die damit nicht zuletzt auf ihren Entstehungsprozeß verweisen. Ebenso geht es ihr bei der Einteilung der Fläche übrigens nicht um mathematisch exakte, sondern einzig um optische Richtigkeit, so daß die Begrenzung der einzelnen Farbsegmente stets aus dem freien, malerischen Vollzug erfolgt, was manchmal zu einer fast auratischen Diffusion ihrer Ränder führt.
Wenn diese Beobachtungen auch gewisse Rückschlüsse auf das eigentliche Interesse der Malerin nahelegen, so scheint eine Argumentation anhand formaler Bildeigenschaften in unserer Frage schon insofern keine endgültige Klärung zu erlauben, als sich jene Positionen, die der eingangs skizzierten Tendenz tatsächlich zuzurechnen sind, ebenfalls kaum nach äußerlichen Kriterien bestimmen lassen. Daß es dennoch lohnt, ihre Arbeiten aus einer – allerdings inhaltlichen – Abgrenzung gegenüber den „rationalistischen“ Strömungen der geometrischen Abstraktion in den Blick zu nehmen, ergibt sich aus dem schon mehrfach angesprochenen Begriff der „Ordnung“, der für die Bildfindungen Dorothea Posdienas gerade in seiner spezifischen Differenz einen besonderen Aussagewert beansprucht.

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Exemplarisch sei dafür auf ein 1996 entstandenes Querformat verwiesen (Seite 4), das auf gelbgrünem Grund eine dunkelblaue Figur in Form eines regelmäßigen Kreuzes zeigt, die abschließend mit dem rechten Rand durch einen weiteren Längsbalken ergänzt wird. Folgt der Betrachter dieser Leserichtung und erweitert in seiner Vorstellung das beschriebene Formgebilde über die Fläche hinaus zu einer fortlaufenden, regelmäßigen Reihe, so erweist sich das nunmehr als Ausschnitt gedachte Bild umso deutlicher als asymmetrisch, nämlich als um eine Balkenbreite aus seiner Mitte herausgerückt. Obwohl das Werk eine solche ins Unendliche gerichtete Imagination provoziert, handelt es sich keineswegs um ein Fragment, sondern um eine in sich abgeschlossene Bildkomposition. Offenkundig wird dies durch die farbliche Abweichung der quadratischen, die beiden Längsbalken verbindende Teilfläche, die deutlich dunkler, fast schwarz erscheint – gerade so, als käme ihre gesteigerte Intensität durch eine Doppelung des beidseitig angrenzenden Blauwertes zustande. Tatsächlich ist die derart fokussierte Stelle von primärer Bedeutung, da ihre Zugehörigkeit, die wesentlich über die optische Gewichtung des Bildes entscheidet, nicht definitiv zu klären ist. Ordnet man sie nämlich der links befindliche Vertikalen zu, so ergibt sich jene anfangs erwähnte Kreuzform, stellt das Sehen dagegen eine Verknüpfung in entgegengesetzte Richtung her, so findet das Bild zu seiner Symmetrie zurück. Eine ähnliche Doppeldeutigkeit liegt übrigens auch dem Verhältnis von Grund und Figur zugrunde, das sich in permanenter optischer Umkehr befindet. Dieser Wechselmechanismus stellt sich vor allem bei der Betrachtung ihrer quadratischen Bilder ein, deren ebenfalls quadratische, farblich differenzierte Eckfelder je nach Sichtweise als „Leerstellen“ einer massiven Kreuzform oder aber als nachträgliche Übermalungen einer ursprünglich formatgreifenden Farbfläche erscheinen.
In der kontinuierlichen Weiterentwicklung ihres Themas hat Dorothea Posdiena in den letzten Jahren zu verschiedenen Möglichkeiten gefunden, um eine auf Ganzheit und Eindeutigkeit zielende Wahrnehmung derart nachhaltig zu irritieren. Ausgegangen war sie dabei von kleinformatigen, unregelmäßig konturierten Bildobjekten, deren Gliederung in einfache Farbformgefüge mit den Einfräsungen und Aussparungen korrespondiert. Ebenfalls unter Verwendung objekthafter Holztafeln folgte ihnen eine Reihe von Arbeiten nach, denen erste, teilweise fragmentierte Kreuzformen eingeschrieben sind, wobei ein zumeist gewinkelter Schnitt durch die Bildfläche das Infragestellen farb- oder formbedingter Zugehörigkeiten auch physisch akzentuiert. Nunmehr häufig aus zwei voneinander getrennten Bildträgern bestehend, die sich in ihrer Größe oder Stärke unterscheiden, übernehmen in späteren Kompositionen Bleistiftlinien eine ähnliche Bedeutung, wobei die Künstlerin teilweise mit einer Kombination von Sägeschnitt und Linie operiert. War der Farbauftrag bis hierhin stets von maximaler Dichte und Festigkeit bestimmt, so hat ihr zuletzt vollzogener Schritt zum größeren Format, einhergehend mit dem Einsatz glatter Deparex-Platten, vor allem – wie eingangs schon angedeutet – eine malerische Belebung der Fläche zugunsten stärkerer Transparenz bewirkt. Dabei sind die Farben häufig so gewählt, als entstünden sie durch Addition bzw. Subtraktion, was das optische Wechselverhältnis der benachbarten Bildfelder zusätzlich unterstreicht.
Die Ordnung, die Dorothea Posdiena ihren Bildern verleiht, ist somit weder streng methodisch noch demonstrativ, sondern zuallererst auf Sichtbarkeit begründet. Weil es durch sie nichts zu behaupten gibt und folglich auch die Farbe keine außerhalb ihrer selbst befindlichen Aufgaben übernimmt, leistet sie sich die Abweichung im Detail, die malerische Entgrenzung, die jeder Exaktheit, jeder planerischen, rein „rationalistischen“ Kalkulation zuwiderläuft. Als solche ist sie offen, beweglich und mehrdeutig, um sich immer wieder selbst infrage zu stellen. Ausgehend von den formalen, sorgsam erprobten Bedingungen der bildnerischen Mittel, von Farbe, Form und Material, gelangt Dorothea Posdiena auf diese Weise zu scheinbar einfachen Setzungen, die sich – gerade in der Ambivalenz ihrer Lesbarkeit – als für die Wahrnehmung äußerst komplex erweisen.

© Stefan Rasche, Text für Katalog Kunstverein Ahlen, 1996